Weitblick als Instrument zur Operationalisierung des schulischen Präventionsauftrags: Eine Analyse der gesetzlichen Grundlagen in Deutschland
Einleitung
Prävention und Gesundheitsförderung gehören zum gesetzlichen Kernauftrag deutscher Schulen. Die Kultusministerkonferenz stellte bereits 2012 klar: Dies sind „keine Zusatzaufgaben der Schulen”, sondern „integrale Bestandteile von Schulentwicklung”. Alle 16 Bundesländer haben entsprechende Vorgaben in ihren Schulgesetzen verankert. Doch zwischen den abstrakten gesetzlichen Zielen und der konkreten Umsetzung im Schulalltag klafft oftmals eine Lücke.
Das Programm „Weitblick – Gesunde Schule hat Methode” bietet Schulen ein systematisches Verfahren, diese Lücke zu schließen. Es basiert es auf dem wissenschaftlich fundierten „Communities That Care“-Ansatz. Der vorliegende Beitrag analysiert zunächst die gesetzlichen Grundlagen auf Bundes- und Länderebene. Anschließend wird aufgezeigt, wie Weitblick Schulen dabei unterstützt, aus abstrakten Gesetzeszielen konkrete, evidenzbasierte Maßnahmen systematisch abzuleiten und umzusetzen.
Der bundesweite Rahmen: Die KMK-Empfehlung von 2012
Die Kultusministerkonferenz verabschiedete am 15. November 2012 ihre „Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule“. Diese bildet den übergreifenden Orientierungsrahmen für alle Bundesländer:
Kernaussagen der KMK-Empfehlung
- Integration statt Addition: Gesundheitsförderung und Prävention gehören „zum Kern eines jeden Schulentwicklungsprozesses” und sind keine zusätzlichen Aufgaben neben dem eigentlichen Bildungsauftrag.
- Wissenschaftliche Grundlage: Die Empfehlung basiert auf der Jakarta-Erklärung der WHO (1997) und betont den wissenschaftlich belegten Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg.
- Ganzheitliches Verständnis: Gesundheit wird als physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden verstanden, nicht nur als Abwesenheit von Krankheit.
- Systematische Verankerung: Gesundheitsförderung soll als „lebenslanger Prozess” in der Lebenswelt Schule strukturell verankert werden.
- Zielorientierung: Angestrebt wird die Entwicklung einer „guten und gesunden Schule”, die Gesundheitsressourcen und -potenziale aller Beteiligten systematisch stärkt.
Diese bundesweiten Vorgaben werden in den Landesschulgesetzen unterschiedlich konkretisiert, wie die folgende Übersicht zeigt.
Die Verankerung in den Landesschulgesetzen
Alle 16 deutschen Bundesländer haben Prävention und Gesundheitsförderung in ihren Schulgesetzen verankert. Die folgende Tabelle zeigt die jeweiligen gesetzlichen Grundlagen:
Bundesland | Gesetzliche Grundlage | Formulierung des Präventions- und Gesundheitsauftrags | Konkretisierung |
---|---|---|---|
Baden-Württemberg | SchulG BW § 1 | „Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt” sowie „Leistungswillen und Eigenverantwortung” | Leitperspektive „Prävention und Gesundheitsförderung” im Bildungsplan; Rahmenkonzept „stark.stärker.WIR” |
Bayern | BayEUG Art. 1 | „Geist und Körper, Herz und Charakter bilden” | Schulentwicklungsprogramm mit konkreten Entwicklungszielen (Art. 2 Abs. 4) |
Berlin | SchulG § 4 Abs. 3 | „Maßnahmen der Prävention, der Früherkennung und der rechtzeitigen Einleitung von zusätzlicher Förderung” | Explizite Nennung von sozialer und emotionaler Entwicklung |
Brandenburg | BbgSchulG § 4 | „Förderung individueller Fähigkeiten” und „sozialer Kompetenzen” | Landesprogramm „Gute gesunde Schule” |
Bremen | BremSchulG § 5 | „Körperliche und seelische Entwicklung” fördern | Integration in Schulentwicklung |
Hamburg | HmbSG § 2 | „Körperliches und seelisches Wohlbefinden aller” | Teil der schulischen Werteordnung |
Hessen | HSchG § 2 | „Körperliche, geistige, seelische und soziale Entwicklung” | Umfassende Präventionsprogramme |
Mecklenburg-Vorpommern | SchulG M-V § 5 | Gesundheitserziehung als Querschnittsthema | Verwaltungsvorschrift zur Gesundheitserziehung |
Niedersachsen | NSchG § 2 | „Gesundheitsbewusstes Verhalten” entwickeln | Programm „Gesund Leben Lernen” |
Nordrhein-Westfalen | SchulG NRW § 2 | „Körperliche und seelische Gesundheit” fördern | Landesprogramm „Bildung und Gesundheit” |
Rheinland-Pfalz | SchulG § 1 | „Verantwortungsbewusstes und gesundheitsbewusstes Verhalten” | Fächerübergreifende Integration |
Saarland | SchoG § 1 | „Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt” | Querschnittsaufgabe |
Sachsen | SächsSchulG § 1 | „Gesundheitsbewusste Lebensführung” | Analyseinstrument „Schulprofil” |
Sachsen-Anhalt | SchulG LSA § 1 | „Körperliche und seelische Entwicklung” | Verankerung in Schulprogrammen |
Schleswig-Holstein | SchulG SH § 4 | „Gesundheitsförderung als grundlegende Aufgabe” | Zentrum für Prävention; KMK-Empfehlung als Grundlage |
Thüringen | ThürSchulG § 2 | „Verantwortliches Handeln für die eigene Gesundheit” | Systematische Gesundheitsförderung |
Das gemeinsame Problem: Die Kluft zwischen Auftrag und Umsetzung
Abstrakte Ziele – konkrete Fragen
Trotz unterschiedlicher Formulierungen stehen alle Schulen vor denselben Herausforderungen:
- Die Zielebene: Was bedeutet es konkret, „Herz und Charakter” zu bilden (Bayern) oder die „soziale und emotionale Entwicklung” zu fördern (Berlin)? Wie übersetzt man „gesundheitsbewusstes Verhalten” (Niedersachsen, Rheinland-Pfalz) in messbare Ziele?
- Die Erkenntnisebene: Wie identifiziert man Risiken und Bedarfe systematisch? Wie unterscheidet man zwischen vermuteten und tatsächlichen Problemen? Wie erkennt man Gefährdungen frühzeitig in Klassen mit 25-30 Schülern?
- Die Handlungsebene: Welche Maßnahmen sind nachweislich wirksam? Wie wählt man aus der Fülle von Präventionsprogrammen die passenden aus? Wie integriert man diese in den Schulalltag?
- Die Evaluationsebene: Woran misst man Erfolg? Wie dokumentiert man Fortschritte? Wie passt man Konzepte bei Bedarf an?
Diese Fragen können Gesetze naturgemäß nicht beantworten. Sie definieren das „Was” und „Warum”, aber nicht das „Wie”. Genau diese Lücke schließt Weitblick.
Weitblick: Von abstrakten Zielen zu konkreten Maßnahmen
Das wissenschaftliche Fundament: Risiko- und Schutzfaktoren
Weitblick basiert auf einem in der internationalen Präventionsforschung bewährten Konzept: Risiko- und Schutzfaktoren sind empirisch belegte Bedingungen, die Problemverhalten wahrscheinlicher machen oder davor schützen. Diese Faktoren sind:
- Konkret definiert: Statt „soziale Entwicklung fördern” werden spezifische Faktoren wie „Bindung zur Schule”, „soziale Unterstützung” oder „Konfliktlösefähigkeit” erfasst
- Messbar: Durch standardisierte, wissenschaftlich validierte Instrumente
- Veränderbar: Durch gezielte, evidenzbasierte Interventionen
- Universal gültig: Die Faktoren gelten bundesweit, unabhängig von länderspezifischen Gesetzesformulierungen
Der systematische Prozess: Fünf Phasen zur Zielerreichung
Weitblick strukturiert die Umsetzung der gesetzlichen Aufträge in einem zweijährigen Prozess:
Phase 1: Voraussetzungen schaffen
- Klärung der organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen
- Einbindung der Schulgemeinschaft
- Gemeinsame Entscheidung zur systematischen Präventionsarbeit
Phase 2: Ist-Stand erheben
- Anonyme Befragung aller Schülerinnen und Schüler
- Systematische Erfassung von Risiko- und Schutzfaktoren
- Objektive Datengrundlage statt subjektiver Einschätzungen
Phase 3: Ziele definieren und Maßnahmen planen
- Datenbasierte Prioritätensetzung
- Auswahl passender Programme aus der „Grünen Liste Prävention”
- Entwicklung eines schulspezifischen Präventionskonzepts
Phase 4: Maßnahmen durchführen
- Systematische Implementierung der ausgewählten Programme
- Einbindung inner- und außerschulischer Partner
- Integration in den Schulalltag
Phase 5: Wirksamkeit überprüfen
- Wiederholungsbefragung nach definiertem Zeitraum
- Messung der Veränderungen bei Risiko- und Schutzfaktoren
- Anpassung des Konzepts basierend auf Ergebnissen
Der Mehrwert: Systematik statt Stückwerk
Wissenschaftliche Fundierung statt Modetrends
Weitblick basiert auf jahrzehntelanger internationaler Forschung. Die Grüne Liste Prävention enthält nur Programme, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Dies schützt Schulen vor gut gemeinten, aber wirkungslosen Maßnahmen.
Datenbasierung statt Bauchgefühl
Die systematische Befragung liefert objektive Daten über die tatsächliche Situation. Schulen erfahren, welche Probleme wirklich existieren und wie verbreitet sie sind. Dies ermöglicht eine gezielte Ressourcenallokation.
Prozessorientierung statt Projektitis
Der zweijährige Begleitprozess sichert nachhaltige Verankerung. Prävention wird nicht als einmaliges Projekt, sondern als kontinuierlicher Prozess etabliert. Die Evaluation ermöglicht kontinuierliche Verbesserung.
Unterstützung statt Überforderung
Schulen werden nicht mit der komplexen Aufgabe allein gelassen. Professionelle Prozessbegleitung, bewährte Instrumente und eine Datenbank evaluierter Programme entlasten das Kollegium.
Realistische Einordnung
Weitblick ist ein Unterstützungsinstrument, keine Patentlösung. Es kann Schulen helfen, ihren gesetzlichen Auftrag systematischer und wirksamer zu erfüllen. Dabei gilt:
- Weitblick ersetzt nicht die pädagogische Verantwortung und das Engagement der Schulgemeinschaft. Es strukturiert und unterstützt diese.
- Weitblick normiert nicht alle Schulen gleich. Jede Schule entwickelt basierend auf ihren spezifischen Daten ein individuelles Konzept.
- Weitblick garantiert nicht automatischen Erfolg. Die Qualität der Umsetzung hängt vom Engagement aller Beteiligten ab.
- Weitblick ergänzt bestehende erfolgreiche Ansätze. Es ersetzt nicht funktionierende Strukturen, sondern fügt eine systematische Ebene hinzu.
Fazit: Ein Instrument zur Verwirklichung des gesetzlichen Präventionsauftrages
Die Analyse zeigt: Prävention und Gesundheitsförderung sind in allen deutschen Schulgesetzen verankert. Die Herausforderung liegt nicht im fehlenden Auftrag, sondern in dessen Umsetzung. Die Kluft zwischen abstrakten Gesetzeszielen und konkreter Schulpraxis ist teilweise erheblich.
Weitblick fungiert als systematisches Übersetzungsinstrument. Es macht aus vagen Zielvorgaben messbare Dimensionen, aus guten Absichten evidenzbasierte Interventionen und aus isolierten Einzelmaßnahmen einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess. Der strukturierte Fünf-Phasen-Prozess führt Schulen systematisch von der Bestandsaufnahme über die Planung und Umsetzung bis zur Evaluation.
In einer Zeit, in der psychosoziale Belastungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben, ist systematische Prävention wichtiger denn je. Die gesetzlichen Vorgaben bieten den Rahmen, Weitblick bietet ein konkretes Instrument zur Ausfüllung dieses Rahmens.
Die wissenschaftliche Evaluation durch die Medizinische Hochschule Hannover und die bundesweite Implementierung belegen: Der Ansatz funktioniert über Ländergrenzen und Schulformen hinweg. Weitblick zeigt, dass die Verwirklichung abstrakter Gesetzesziele möglich ist – wenn man sie systematisch angeht und Schulen die notwendige Unterstützung erhalten.
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